Wer bin ich und wo komme ich her?

2.06.2022
Nicole Emch
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Zum Erwachsenwerden gehört auch dazu, sich selbst zu finden. Wer bin ich, was kann ich, wohin will ich? Um diese Fragen zu beantworten ist es wichtig zu wissen, woher man kommt. Und genau das wissen Hunderte von Erwachsenen nicht, die als Kind illegal aus Sri Lanka in die Schweiz adoptiert wurden. Der Bund will Ihnen nun bei der Suche nach ihren Wurzeln helfen.

Das Wichtigste in Kürze

Wenn es einfach schnell gehen soll, dann findest du in diesem Kasten die Hauptaussagen des Artikels:

  • Von den 1970er bis 1990er Jahren wurden Hunderte Kinder illegal aus Sri Lanka in die Schweiz adoptiert.
  • Die Kinder wurden ihren Familien weggenommen, Papiere gefälscht, Spuren verwischt. Die Vermittler vor Ort machten das grosse Geld, die Schweizer Behörden schauten weg.
  • Nachdem die offizielle Schweiz den Betroffenen für das Geschehene ihr Bedauern ausgesprochen hat, will sie sie künftig bei der Suche nach ihrer Herkunft finanziell unterstützen.

Es gehört zu den dunklen Kapiteln der jüngeren Schweizer Geschichte: in den 1970-er bis 1990-er Jahren wurden Hunderte Kinder aus Sri Lanka in die Schweiz adoptiert. Was gut gemeint war, entwickelte sich zu einem schmutzigen Geschäft. Babys wurden ihren Familien weggenommen, zum Beispiel wurde den Müttern nach der Geburt gesagt, ihr Baby sei verstorben, das lebende Kind wurden dann zur internationalen Adoption freigeben. Zudem gab es sogenannte Babyfarmen oder die Mütter erhielten wenige Dollar, wenn sie ihr Kind weggaben. Die Schweizer Eltern auf der anderen Seite bezahlten hohe Summen von 5’000-15’000 Franken.

Damit dieses Geschäft funktionieren konnte wurden Geburtsurkunden gefälscht, falsche Angaben zu den leiblichen Eltern gemacht etc. All das macht die Suche nach der Wahrheit heute mehr als 30 Jahre später extrem schwierig. Beteiligt an dem Geschäft mit Kindern waren eine ganze Gruppe von Personen. Die Vermittler vor Ort in Sri Lanka machten das grosse Geld. Aber auch die Schweizer Behörden sind nicht unschuldig. Es gibt Hinweise, dass die Schweizer Botschaft in Sri Lanka bereits 1981 über die Unregelmässigkeiten informiert wurde und auch wusste, dass es Fälle von Kinderhandel gab. Passiert ist nicht viel. Stattdessen schauten die Behörden weg, die Botschaft in Colombo stellte Visa für die Kinder aus, die kantonalen Adoptionsbehörden in der Schweiz drückten beide Augen zu. Kurz die Rechte und Interessen der Kinder wurden weniger hoch gewichtet, als der Wunsch von Schweizer Paaren, Kinder aus dem Ausland zu adoptieren. Dass etwas nicht stimmte, merkten einige der Adoptiveltern. Zum Teil beklagten sie sich bei Schweizer Behörden. Einige zogen Ihr Interesse an einer Adoption zurück, andere verdrängten das ungute Gefühl.

Die Suche nach den eigenen Wurzeln

Viele der Menschen, die damals als Kinder in die Schweiz kamen, stellten sich mit der Zeit Fragen zu ihrer Herkunft. Je älter man wird, je besser man sich selber kennenlernt, desto wichtiger ist es für viele von uns, zu wissen, wo unsere Wurzeln sind. Wer bin ich, woher komme ich, was ist aus meiner leiblichen Familie geworden und denkt meine biologische Mutter noch an mich? Alles Fragen, die die Schweizer Eltern der Betroffenen oft nicht beantworten konnten. Auf eigene Faust begannen Betroffene ihre Suche. Schnell stellte sich heraus, dass die Papiere, die sie besassen, eben oft gefälscht waren. Als immer mehr solche Fälle bekannt wurden, schlossen sich die Betroffenen 2018 in einem Verein zusammen. „Back to the Roots“ nennt er sich, auf Deutsch «Zurück zu den Wurzeln». Ziel des Vereins ist es, die Betroffenen bei der Herkunftssuche zu unterstützen und sich untereinander zu vernetzen. Mithilfe von DNA-Tests gelingt es teilweise, die leiblichen Eltern zu finden. Doch damit ist es nicht getan. Eine Beziehung aufzubauen zu einer Mutter, die man nie kennengelernt hat, die in einer ganz anderen Kultur, in einer anderen Welt lebt, braucht Zeit. Gleichzeitig haben die Betroffenen ihr Leben und ihre Familie in der Schweiz, das in Einklang zu bringen ist nicht einfach. Mit dem Finden beginnt also ein weiterer langer und oft auch schmerzhafter Weg. Und doch ist sie für viele Betroffene wichtig, diese Suche nach der Wahrheit, nach der eigenen Geschichte.

Was sagt die offizielle Schweiz?

Back to the Roots engagiert sich auch politisch. Sie weibeln für die Anliegen von Betroffenen, sorgen dafür, dass in der Schweiz etwas geht. Mit Erfolg wie sich letzte Woche gezeigt hat. Dass sich die Schweiz nicht richtig verhalten hat, dass viele Fehler begangen wurden, hatte schon eine Untersuchung der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Jahr 2020 gezeigt. Damals folgte auch eine offizielle Entschuldigung der Schweiz. Bundesrätin Karin Keller-Sutter drückte den Betroffenen und ihren Familien ihr Bedauern aus. Am 16. Mai 2022 nun hat Keller-Sutter zusammen mit Sarah Ramani Ineichen, der Präsidentin von Back to the Roots und Fredy Fässler, dem Präsidenten der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren ein Abkommen unterzeichnet, das den Betroffenen Unterstützung bei der Herkunftssuche zusichert. In einem dreijährigen Pilotprojekt wird das Angebot von Back to the Roots, das Betroffene bei der Suche begleitet und berät, finanziell unterstützt. Es ist zu hoffen, dass diese Unterstützung Wirkung zeigt und mehr Betroffenen hilft, ihre Wurzeln zu finden. Die Chancen dafür stehen leider auch mit finanzieller Unterstützung nicht sehr hoch.

Arbeitsmaterial

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